Die Bibel enthält Widersprüche
Für viele Christen gilt die Bibel als das unfehlbare Wort Gottes – göttlich inspiriert, vertrauenswürdig und wahr in allem, was sie lehrt. Diese Sicht stützt sich unter anderem auf Aussagen wie in 2. Timotheus 3,16, wo es heißt: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben.“
Wenn jedoch innerhalb der Bibel widersprüchliche Aussagen auftauchen, steht genau diese Überzeugung auf dem Prüfstand.
Im Folgenden zeigen wir euch einige zentrale Widersprüche in der Bibel auf.
Nr 1: Hat Jahwe sich Abraham offenbart?
Zusammenfassung:
In 2. Mose 6,3 sagt Gott, dass er Abraham seinen Namen JHWH nicht offenbart habe.
Doch in 1. Mose 15,7 stellt sich Gott eben diesem Abraham als JHWH vor.
Beides kann nicht gleichzeitig wahr sein – ein klarer Widerspruch.Widerspruch im Detail anzeigen
1) Die beiden Texte im Wortlaut
1. Mose 15,6-7
וְהֶאֱמִן, בַּיְהוָה; וַיַּחְשְׁבֶהָ לּוֹ, צְדָקָהוַיֹּאמֶר אֵלָיו ׀ אֲנִי יְהוָה אֲשֶׁר הוֹצֵאתִיךָ מֵאוּר כַּשְׂדִּים ‑ לָתֶת לְךָ אֶת‑הָאָרֶץ הַזֹּאת לְרִשְׁתָּהּVehe’emin ba‑YHWH; vayachsheveha lo tzedakah.Vayomer elav: Ani YHWH asher hotzeticha me‑Ur Kasdim, latet lecha et‑ha’aretz hazot l’rish’tah.
Gott sprach zu Abraham: “Ich bin JHWH, der dich aus Ur in Chaldäa geführt hat, um dir dieses Land zum Besitz zu geben.” (Luther 1545)
2. Mose 6,3
וָאֵרָא, אֶל‑אַבְרָהָם, אֶל‑יִצְחָק וְאֶל‑יַעֲקֹב, בְּאֵל שַׁדָּי; וּשְׁמִי יְהוָה לֹא נוֹדַעְתִּי לָהֶםVa’era el‑Avraham, el‑Yitzchak ve’el‑Ya’akov, b’El Shaddai; u’shmi YHWH lo noda’ti lahem.
… “doch meinen Namen JHWH habe ich ihnen(Abraham) nicht kundgetan”. (Luther 1545)
2) Warum ist das ein Problem?
Gott behauptet in Ex 6,3 ausdrücklich, nie zuvor den Namen JHWH offenbart zu haben. Doch in Gen 15,7 nennt er sich selbst so gegenüber Abraham. Zwei Aussagen, die sich gegenseitig ausschließen.
3) Häufige Erklärungsversuche … und warum sie nicht überzeugen
Ausrede I: Gott habe Abraham den Namen gegeben, aber nicht die Bedeutung des Namens.
Widerlegung: Der Bibeltext erwähnt genau das Gegenteil: Abraham erhielt den Namen, nicht dessen Bedeutung. In Ex 6,3 verneint Gott explizit die Nennung des Namens, nicht die Erklärung seiner Bedeutung.
Ausrede II: Gott habe nur nicht allen zusammen den Namen gegeben, aber Abraham allein schon.
Widerlegung: Diese Interpretation scheitert an der Textlogik: Ex 6,3 nennt alle drei Patriarchen in einem Atemzug und schließt Abraham ausdrücklich mit ein – niemand von ihnen hat den Namen erhalten.
4) Eine historische Erklärung: Die Urkundenhypothese
Der Widerspruch lässt sich mit der sogenannten Urkundenhypothese erklären: Frühjüdische Autoren verarbeiteten mehrere, teils widersprüchliche Traditionsstränge – einen “JHWH-Strang”, der den Namen schon früh kennt (J-Quelle), und einen “Elohim-Strang”, der ihn erst zur Zeit des Mose einführt (P-Quelle). Bei der Zusammenführung blieb dieser Konflikt erhalten.
5) Ergebnis
Die Bibel enthält hier einen nicht auflösbaren Widerspruch. Das widerlegt die Vorstellung einer in jeder Aussage fehlerfreien Schrift.
Quelle: Erich Zenger, Einleitung in das Alte Testament, 9. Aufl., S. 109 f.
Nr 2: Zwei widersprüchliche Schöpfungsberichte
Zusammenfassung:
Genesis 1 schildert eine streng geordnete Sechs-Tage-Schöpfung: Pflanzen → Tiere → Mensch (männlich + weiblich zugleich).
Genesis 2 erzählt eine völlig andere Reihenfolge: Mensch (Adam) → Pflanzen → Tiere → Frau (Eva).
Zwei unvereinbare Abläufe – ein eindeutiger Widerspruch.Widerspruch im Detail anzeigen
1) Die beiden Texte im Wortlaut (Auszüge)
Genesis 1 (Tag 3, 5 & 6 + Abschluss)
וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים … תַּדְשֵׁא הָאָרֶץ … (Gen 1, 11 – 12)Vayómer Elohím … tadshe haʼáretz … (Gen 1, 11 – 12)Da sprach Elohim: „Die Erde lasse junges Grün hervorsprießen …“
וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים … יִשְׁרְצוּ הַמַּיִם … (Gen 1, 20 – 21)Vayómer Elohím … yishrǝtsú hamáyim … (Gen 1, 20 – 21)Und Elohim sprach: „Es wimmle das Wasser von Lebewesen, und Vögel sollen fliegen …“
וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים … תּוֹצֵא הָאָרֶץ … (Gen 1, 24 – 25)Vayómer Elohím … totzé haʼáretz … (Gen 1, 24 – 25)„Die Erde bringe Lebewesen aller Art hervor …“
וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים … נַעֲשֶׂה אָדָם … (Gen 1, 26 – 27)Vayómer Elohím … naʿaséh ádam … (Gen 1, 26 – 27)Dann sprach Elohim: „Lasst uns Menschen machen … als Mann und Frau schuf er sie.“
Chronologiezusammenfassung: Pflanzen → Tiere → Mensch (männlich + weiblich)
Genesis 2 (2,4b – 9 & 2,18 – 23)
בְּיוֹם עֲשׂוֹת יְ־הוָה אֱלֹהִים … (Gen 2, 4 – 5)Bᵊyóm ʿasót YHWH Elohím … (Gen 2, 4 – 5)„An dem Tag, als JHWH Elohim Erde und Himmel machte …“
וַיִּיצֶר יְ־הוָה אֱלֹהִים … אֶת־הָאָדָם … (Gen 2, 7)Vayyítser YHWH Elohím … et-haʼádam … (Gen 2, 7)„Da formte JHWH Elohim den Menschen (Adam) …“
וַיִּטַּע יְ־הוָה אֱלֹהִים גַּן … (Gen 2, 8 – 9)Vayyittáʿ YHWH Elohím gan … (Gen 2, 8 – 9)„Und JHWH Elohim pflanzte einen Garten in Eden …“
וַיִּצֶר יְ־הוָה אֱלֹהִים … כָּל־חַיַּת … (Gen 2, 19 – 20)Vayyítser YHWH Elohím … kol-chayyat … (Gen 2, 19 – 20)„JHWH Elohim bildete die Tiere des Feldes …“
וַיַּפֵּל יְ־הוָה אֱלֹהִים … וַיִּבֶן … (Gen 2, 21 – 23)Vayyappél YHWH Elohím … vayyivén … (Gen 2, 21 – 23)„Da ließ JHWH Elohim einen Schlaf auf Adam fallen … baute daraus die Frau …“
Chronologiezusammenfassung: Mensch (Adam) → Pflanzen → Tiere → Frau (Eva)
2) Warum ist das ein Problem?
| Merkmal | Genesis 1 | Genesis 2 | Konflikt |
|---|---|---|---|
| Gottesname | Elohim | JHWH Elohim | Unterschiedliche Traditionen |
| Reihenfolge | Pflanzen → Tiere → Mensch (beide Geschlechter zugleich) | Mensch → Pflanzen → Tiere → Frau | Umgekehrte Chronologie |
| Stil/Genre | Hymnisch, geordnet, „Und es geschah …“ | Erzählend, anthropomorph | Zwei literarische Welten |
Die beiden Fassungen widersprechen sich sowohl sachlich (Ablauf) als auch terminologisch (Gottesname). Eine harmonische „Ein-Bericht-Lesart“ müsste diese Diskrepanzen erklären – scheitert aber meist an den klaren Textsignalen.
3) Häufige Erklärungsversuche … und warum sie nicht überzeugen
Ausrede I: „Genesis 2 zoomt nur in Tag 6 hinein.“
Widerlegung: Auch als „Zoom“ bleibt die Reihenfolge vertauscht: In Gen 2 erscheinen Pflanzen nach Adam, in Gen 1 vor ihm.
Ausrede II: „Gen 2 ist thematisch, nicht chronologisch.“
Widerlegung: Die hebräischen Wayyiqtol-Formen markieren klar eine Abfolge: „Dann pflanzte … dann formte …“.
Ausrede III: „Das Wort für ›Pflanzen‹ ist verschieden.“
Widerlegung: Gen 2,5 nennt kol-śiḥ haśśādeh („alle Feldsträucher“) – pauschal, nicht nur Nutzpflanzen.
4) Eine historische Erklärung: Die Quellenschichten J und P
Die klassische Urkunden- bzw. Dokumentenhypothese erklärt das Doppel so:
| Quelle | Kennzeichen | Schöpfungsbericht |
|---|---|---|
| P (= Priester) | Name Elohim, schematische Sieben-Tage-Struktur | Genesis 1,1 – 2,3 |
| J (= Jahwist) | Name JHWH, anthropomorph, Garten Eden, Dialoge | Genesis 2,4b – 3,24 |
Ein Redaktor (ca. 6.–5. Jh. v. Chr.) fügte beide Texte zusammen, ohne ihre Unterschiede zu glätten. Die Spannung ist damit ein literarisches Fossil, das auf mehrere Traditionen verweist.
5) Ergebnis
Textintern lassen sich die beiden Abläufe nicht widerspruchsfrei synchronisieren. Apologetische Harmonien müssen entweder den Wortlaut umdeuten oder die Chronologie ignorieren.
Historisch-kritisch bleibt der Befund klar: Zwei voneinander unabhängige Schöpfungsüberlieferungen wurden redaktionell verschmolzen – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Bibel keine vollkommen widerspruchsfreie Schrift ist.
„Wer beide Texte ernst nimmt, muss ihre Verschiedenheit anerkennen – erst dann versteht man ihre jeweilige Theologie.“
— R. E. Friedman, Who Wrote the Bible?, Kap. 1 f.
Quellen: R. E. Friedman, Who Wrote the Bible?, Kap. 1–2; E. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, 9. Aufl., S. 105 ff.

