In diesem Beitrag werde ich anschaulich erläutern, unter welchen Bedingungen ein Mensch im Islam als schuldfähig (mukallaf) gilt. Ziel ist es, einen verständlichen Überblick darüber zu geben, wie die islamische Normenlehre die Verantwortlichkeit des Menschen bestimmt und welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit göttliche Gebote und Verbote für ihn verbindlich werden.
Definition von Mukallaf
Unter dem Begriff „Mukallaf” versteht man eine Person, welche
1. islamisch erwachsen (bāliġ) ist,
2. vollen Besitz der geistigen Kräfte (ʿāqil) besitzt und
3. die Fähigkeit besitzt, das entsprechende Urteil umzusetzen (ʾimkān).
Diese Person kann von Allāh, aufgrund seiner Handlungen, zur Rechenschaft gezogen werden. Sie ist verpflichtet, die ʾaḥkām šarʿiyya (islamische Rechtsvorschriften) einzuhalten.
Kinder, Geisteskranke oder Personen, die die Fähigkeit nicht besitzen, die Gebote zu erfüllen, fallen aus der Schuldfähigkeit heraus.
Allāh sagt im Qurʾān:
Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu leisten vermag. […]
(Qurʾān 02:286)
Diese Bedingungen zeigen, dass die Schuldfähigkeit eine Erleichterung und Entlastung für diejenigen ist, die nicht in der Lage sind, die Gebote einzuhalten.
Wann ist man im Islām Erwachsen (bāliġ)?
ʾImām aš-Šāfiʿī – möge Allah ihm barmherzig sein – führt in seinem Buch al-Umm zur Reife von Mann und Fraufolgenden Vers an:
„Und prüft die Waisen, bis daß sie das Heiratsalter erreicht haben.[…]“
(Qur’ān 4:6)
Ibn Kaṯīr erklärt diesen Vers wie folgt:
Allāh sagt:
[…]
[…] bis dass sie das Heiratsalter erreicht haben. […],
also das Alter der Pubertät, laut Muǧāhid. Die Pubertät tritt nach der Mehrheit der Gelehrten ein, wenn das Kind [zum ersten Mal] einen feuchten Traum hat.
[…]
In einem anderen Ḥadīṯ berichten ʿĀʾiša und andere Gefährten, dass der Prophetﷺsagte:
„Der Stift ist von dreien aufgehoben:
vom Kind, bis es die Pubertät erreicht; vom Schlafenden, bis er aufwacht; und vom Geisteskranken/Verrückten, bis er wieder zu Bewusstsein kommt.“
Oder man betrachtetdas Alter von fünfzehn Jahren als das Alter der Mündigkeit.Denn in den beiden Ṣaḥīḥs wird überliefert, dass Ibn ʾUmar sagte:
„Ich wurde am Vorabend der Schlacht von Uḥud zum Prophetenﷺgebracht,als ich vierzehn Jahre alt war, und er erlaubte mir nicht,an dieser Schlacht teilzunehmen. Aber am Vorabend der Schlacht von al-Ḫandaq [der Grabenschlacht] wurde ich zu ihm gebracht,als ich fünfzehn Jahre alt war, und er erlaubte mir,[an dieser Schlacht] teilzunehmen.“
Als ihn dieser Ḥadīṯ erreichte, meinte ʿUmar Bin ʿAbdul-ʿAzīz:
„Dies ist der Unterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen.“
Es gibt Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die Schambehaarung als Zeichen des Erwachsenseins angesehen wird, und die richtige Meinung ist, dass sie es ist.Die Sunnah untermauert diese Ansicht, gemäß einem von ʾImām Aḥmad überlieferten Ḥadīṯ von ʿAṭiyya al-Qurazī, der sagte:
„Am Tag von Qurīẓah wurden wir dem Prophetenﷺvorgeführt, wer Schamhaar hatte, wurde getötet, wer noch keines hatte, wurde frei gelassen. Ich war einer von denen, die keines hatte, und so wurde ich frei gelassen.“
Ähnliches haben auch die vier Verfasser der Sunan überliefert. At-Tirmiḏī sagte: „Ḥasan Ṣaḥīḥ“
Demnach sind die drei Anzeichen für die Reife im Islam folgende, wie wir aus dem Tafsīr und anderen Quellen entnehmen können:
Das Eintreten der Ejakulation bei Jungs oder das Eintreten der ersten Monatsblutung bei Mädchen,
wenn das (nach der Berechnung des Mondkalenders) das 15. Lebensjahr erreicht hat, oder
wenn dem Kind Schamhaare wachsen.
Von all diesen Anzeichen reicht es, wenn nur eines davon eintritt. Man ist also spätestens ab dem 15. Lebensjahr, wenn man dazu noch im vollen Besitz der geistigen Kräfte ist, nach der islamischen Rechtslehre, schuldfähig. Selbst wenn ein Kind, dass noch nicht das 15. Lebensjahr erreicht hat und keine anderen Anzeichen auf Reife eingetreten sind, verstehen würde, was man von ihm verlangt, wäre dieses Kind nach der Šarīʿa nicht schuldfähig und es würde nicht zu denen gehören, die mit den ʾaḥkām šarʿiyya angesprochen werden.
Eine weitere Bedingung dafür, dass eine Person schuldfähig wird, ist, dass sie die Fähigkeit besitzt, diese Bestimmung, welche ihr aufgetragen wurde, umzusetzen (ʾimkān). Denn selbst wenn eine Person islamisch Erwachsen und im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist, gibt es Fälle, bei der sie keine Konsequenz erleiden muss, wenn sie einer auferlegten Pflicht nicht nachgeht, wie zum Beispiel die Person, die im Monat Ramaḍān aufgrund einer Krankheit oder aufgrund der Schwangerschaft nicht Fasten kann, obwohl sie schon schuldfähig ist und vollen Besitzt seiner Kräfte verfügt.
Die Fähigkeit, Pflichten zu erfüllen (ʾimkān)
Selbst wer islamisch erwachsen (bāliġ) ist und vollen Besitz der geistigen Kräfte (ʿāqil) besitzt, kann in bestimmten Situationen entlastet sein.
Zum Beispiel sind Personen die Krank sind oder Schwanger sind, vom Fasten im Monat Ramaḍān befreit, obwohl es eigentlich eine Pflicht für sie wäre. Ebenso verhält es sich bei demjenigen, der seinen Kopf bei der Ganzkörperwaschung (ġusl) aufgrund einer schweren Verletzung nicht waschen kann, obwohl das Waschen vom Kopf auch ein Pflichtbestandteil der Ganzkörperwaschung ist.